Am 7. September 2018 erscheint ein neues Paul-McCartney-Album. „Egypt Station“ verbindet das Gestern mit dem Heute, die Beatles mit McCartneys Solowerk, klassisches Songwriting mit modernen Produktionsmethoden. Die 16 Songs sind das eindrucksvolle Zeugnis der ungebrochenen Meisterschaft des größten Pop-Künstlers aller Zeiten.
Über die Jahre wurden Paul McCartney nicht weniger als achtzehn Grammy Awards verliehen. Von ihm komponierte oder mitkomponierte Songs waren 32 Mal auf Platz eins der US-Charts. Alleine mit den Beatles verkaufte McCartney bis heute 800 Millionen Einheiten, seine Soloalben und die der Beatles-Nachfolgeband Wings wurden durchgehend mit Gold und Platin ausgezeichnet. Paul McCartney trägt seit über 20 Jahren ein Sir vor seinem Namen und wurde 2017 von der Queen zum Companion of Honour befördert. Als einziger Musiker überhaupt wurde er sogar zweimal in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen, er war der erste Pop-Milliardär – man könnte ewig so weitermachen.
Paul McCartney könnte sich also ausruhen. Sein Leben genießen. Mit den Enkelkindern zum Skifahren nach St. Moritz fahren. Ein gutes Buch lesen. Er hätte alles Recht der Welt dazu. Stattdessen singt der 76-Jährige nun folgende Zeile in „I Don’t Know“, der ersten Single aus „Egypt Station“: „I’ve got so many lessons to learn“. Er meint damit nicht sein Handicap beim Golf.
Was man bei all den Rekorden für die Ewigkeit schnell vergisst, ist die Tatsache, dass es gleichzeitig keinen großen Popkünstler seiner Generation gibt, der so viel Gegenwart hat wie Paul McCartney.
Alleine die Dinge, die er in den vergangenen paar Jahren, Monaten und Wochen gemacht hat, würden anderen für eine ganze Karriere reichen: Beginnend mit „Chaos and Creation in the Backyard“ (2005) gelang McCartney ein bislang vier Alben umspannendes Spätwerk, das es mühelos mit seinen frühen Werken aufnehmen kann. Er hat mit jüngeren Künstlern wie Kanye West, Rihanna und Dave Grohl gearbeitet, mit Produzenten wie Nigel Godrich und dabei bewiesen, dass er immer noch hungrig, offen, neugierig ist.
Kürzlich hat McCartney mit James Corden eine besondere Ausgabe von dessen „Carpool Karaoke“ produziert, für die er die Stätten seiner Jugend besuchte. Eine faszinierende, schon jetzt historische Folge des Formats, die zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits über 30 Millionen Mal geklickt wurde. Einige Wochen später hat sich McCartney in der Aula seiner ehemaligen Schule, die heute „The Paul McCartney Auditorium“ heißt, den Fragen des langjährigen Pulp-Chefs Jarvis Cockers gestellt. Die Lehranstalt hatte McCartney vor einigen Jahren zu einer Universität für darstellende Künste umfunktioniert. Sie heißt nun Liverpool Institute of Performing Arts, kurz LIPA, zu den Absolventen zählen The Wombats, Eugene McGuinness, Sandi Thom und der Jazz-Pianist Dan Costa.
Vor 400 Studierenden der Schule erzählte McCartney von gemeinsamen Schreibsessions mit John Lennon: Die Songs mussten gute Refrains haben, damit sie sich am nächsten Tag noch an sie erinnern konnten, eine Aufnahmemöglichkeit gab es nicht. In den Tagen davor und danach spielte McCartney exklusive Geheimkonzerte in der LIPA, den Abbey Road Studios und dem neuen Cavern Club in Liverpool, in dessen Vorläufer die Beatles einige ihrer ersten Erfolge gefeiert hatten. Bei diesen Gelegenheiten präsentierte sich McCartney – frisch, wach, beinahe jugendlich wirkend – als anekdotischer Erzähler und meisterhafter Conférencier.
Und nun begibt sich dieser Paul McCartney also wieder auf eine musikalische Reise. Er ist auf einer solchen, seit er 1957 im Alter von 15 Jahren John Lennons Schülerband The Quarrymen beigetreten war, aber die Lust und die Neugierde daran hat er nie verloren. „Egypt Station“, das kann bereits jetzt gesagt werden, nimmt innerhalb von McCartney Spätwerk einen besonderen Rang ein. Auf seinem 17. Soloalbum (oder 18. Zählt man das Kollaborationsalbum mit seiner nun verstorbenen Frau Linda [„Ram“] mit) verknüpft der Songschreiber alle Stränge seiner beeindruckenden Karriere und überführt sie ins Hier und Jetzt. Dem älter gewordenen Paul McCartney zuzuhören, ist ein besonderes Privileg, weil er zu keinem Zeitpunkt alt oder gestrig klingt.
Die Vorgeschichte von „Egypt Station“ geht zurück bis ins Jahr 2015, streng genommen sogar bis ins Jahr 1967: McCartney bereitete damals gerade die Jubiläumsedition zum 50. Jahrestag von „Sgt. Pepper“ vor. Er hörte sich durch die alten Aufnahmen, erinnerte sich wieder an Dinge, die er beinahe vergessen hatte und so wurde der frühe Beatles-Meilenstein zu einer wesentlichen Inspiration für „Egypt Station“.
„Die Alben aktueller Stars wie Kendrick, Taylor Swift oder Beyoncé klingen wie eine Aneinanderreihung großartiger Singles, ihnen fehlt aber der dramaturgische Bogen, wie man ihn von Pink-Floyd-Alben oder denen der Beatles kennt“, sagt McCartney. „Auf diesem Feld kann und will ich nicht mit diesen Leuten in Konkurrenz treten. Was ich kann: eine Art Konzeptalbum schreiben, das man in einem durchhören kann, wenn man möchte und das einen unbedingt irgendwo hinführt.“
Es ging also noch einmal um den ganz großen Wurf: Die Kunstform des Musikalbums als zusammenhängendes Werk, die die Beatles mit „Sgt. Pepper“ quasi erfunden hatten. Zur Umsetzung dieses ambitionierten Vorhabens tat sich McCartney mit dem Produzenten Greg Kurstin (Foo Fighters, Adele, Beck u.a.) zusammen, den er bei einer Soundtrackarbeit für einen Animationsfilm kennen gelernt hatte.
Über einen Zeitraum von zwei Jahren wurde immer wieder in Blöcken an dem Album gearbeitet. In Los Angeles und einem Studio im ländlichen Sussex trafen sich McCartney und Kurstin meist von zwölf Uhr mittags bis 18 Uhr. McCartney hatte fragmentarische Ideen auf seinem Smartphone, andere Songs wurden komplett im Studio geschrieben und arrangiert, wieder andere arbeitete er von einer groben Idee ausgehend mit seiner Band aus. Die meisten Instrumente spielte McCartney selbst ein, so ist der überwiegende Teil der Schlagzeugparts ebenso von ihm wie natürlich alle Bass-Parts und viele Gitarren. Andere Instrumente übernahm Kurstin, den Rest spielten die Musiker von McCartney lange erprobter Tourband ein.
Erst zum Ende der Produktion ging es für den Feinschliff in McCartneys Wohnzimmer: In den legendären Abbey-Road-Studios zu London wurden Overdubs hinzugefügt, also Streicher, Chöre, Bläsersätze etc. Für „Opening Station“ und „Station II“, welche die Klammer dieses Albums bilden, nahm Kurstin schließlich einen Chor in einer Kirche mit genau jener Bandmaschine von Brenell auf, die einst im Rahmen der „Revolver“-Produktion für „Tomorrow Never Knows“ zum Einsatz gekommen war.
Paul McCartney glühte vor Kreativität und Arbeitseifer. Als Kurstin einmal wegen einer anderen Produktion verhindert war, ging er kurzerhand mit Ryan Tedder von OneRepublic ins Studio und nahm drei Songs mit ihm auf, von denen das hochinfektiöse „Fuh You“ auf „Egypt Station“ enthalten ist. So entstanden nicht weniger als 16 Songs, die das gesamte musikalische Spektrum des McCartney-Universums abdecken. „Paul war es wichtig, eine ähnliche Vielfalt wie auf den klassischen Beatles-Alben zu erreichen“, sagt Produzent Kurstin im amerikanischen „Rolling Stone“. „Er brachte die verschiedensten Stimmungen und Ideen ein. Es gibt klare Rock-Songs, Akustik-Balladen, ein brasilianisch inspiriertes Stück (‚Back in Brasil‘) und einiges mehr. Klanglich wollte er ebenfalls besondere Wege gehen und gewöhnliche Klänge vermeiden. Er wollte experimentieren.“
„Confidante“ ist eine wunderschöne Akustikballade, die McCartney beinahe im Alleingang vorträgt, „Do it Now“ ein melodramatischer Tearjerker, „Caesar Rock“ ein straighter Rocker, der auch den Rolling Stones gut zu Gesicht stehen würde, „Happy With You“ eine zu Herzen gehende, sehr direkte Liebeserklärung, „People Want Peace“ eine Friedenshymne. McCartney beschwört den Gemeinschaftsgeist, appelliert an Vernunft und Liebe und findet so immer wieder auch politische Töne.
Beim Songwriting wie in anderen Fragen des Lebens glaubt McCartney ans Schicksal, daran, dass sich die Dinge irgendwie fügen. Von der sich aus diesem Umstand ergebenen Grundzuversicht, verbunden mit einem Bewusstsein für die Abgründe des Lebens, haben seine besten Songs stets profitiert. Das gilt in besonderer Weise für „Despite Repeated Warnings“, dem musikalischen Kernstück dieses Albums. Inhaltlich eine Analogie auf die Unbelehrbarkeit der menschlichen Rasse, ist das siebenminütige Stück ein vielschichtiges, theoretisch aus mehreren Songs bestehendes Epos, mit dem McCartney die Tradition dessen wiederaufnimmt, was er „Teenage Opera“ nennt: Komplexe Pop-Miniopern, die über das Songformat hinausgehen. McCartney selbst hat dieses Format mit den Beatles und „A Day In The Life“ zur Perfektion gebracht und später mit den Wings immer wieder aufgegriffen.
Das Cover des Albums illustriert die Idee des konzeptuell geschlossenen Werks auf treffliche Weise: Es zeigt ein Kunstwerk gleichen Titels von McCartney selbst, das ihm bei der Albumproduktion wieder in den Sinn kam. „Mir gefiel die Wortverbindung ‚Egypt Station‘“, sagt er. „Das Album fängt mit dem ersten Song an einer Station an und danach ist jeder weitere Song eine andere Station. Das war für uns gewissermaßen der rote Faden, der dem Album Struktur gab.“
Und so schließt sich mit „Egypt Station“ also ein Kreis: Das Album, das allgemein als erstes Musikalbum nach heutigem Verständnis gilt, hat ein Meisterwerk dieser Gattung inspiriert, wie es sie in diesen Tagen kaum noch gibt. Paul McCartney ist kein Teil der Popgeschichte, es würde ohne ihn überhaupt keine Popgeschichte geben. Nun hat er ihr auf meisterhafte Weise ein weiteres Kapitel hinzugefügt.